Marcel Schütz, Organisationsforscher an der NBS, studiert Unfälle, die sich bei betrieblichen Abläufen ereignen. Mit dem nun wieder diskutierten Fall "Estonia" ist er länger schon vertraut. Ein Interview über vermeintlich neue Erkenntnisse, alternative Erklärungen und zur Frage, welchen Beitrag die Unfallforschung für Managerinnen und Manager leistet.
Herr Schütz, seit einigen Tagen wird über neue Erkenntnisse im Fall des Untergangs der Ostsee-Fähre "Estonia" in der Nacht am 28. September 1994 berichtet, bei dem 852 Menschen ums Leben kamen. Was ist an diesen Berichten dran und was macht gerade diesen Fall so spannend?
Der Untergang der "Estonia" auf halber Strecke zwischen Tallinn und Stockholm zählt zu den größten Schiffskatastrophen nach der Titanic. Die heute anerkannte Erklärung lautet, dass das Bugvisier der Fähre, also die Öffnung für die Auf- und Abfahrt der Fahrzeuge (siehe Bild, Vorderteil), in stürmischer See abbrach und dadurch das Fahrzeugdeck binnen kurzer Zeit geflutet wurde. Daraufhin ist die "Estonia" gekentert. Nun haben Taucher nach 26 Jahren noch ein weiteres Loch am Schiffswrack entdeckt. Aber dieses Loch wird von den Gutachtern der Technischen Universität Hamburg, die den Untergang im Auftrag Schwedens analysiert haben, als sekundär bewertet, das heißt, für die Ursache des Unglücks als nicht relevant. Es könnte durch ein Überfahren durch das Schiff entstanden sein. Wieso diese Stelle bislang nicht erfasst wurde, weiß man nicht. Die Ingenieure und Physiker können aus der Lage des Schiffs am Meeresgrund aber mathematisch ermitteln, wie sich das Geschehen abgespielt haben muss. Ähnlich einer Spurensicherung nach einem Gewaltdelikt kann damit festgestellt werden, von wo und in welchem Winkel – metaphorisch gesprochen der "Schuss" – abgefeuert wurde.
In der öffentlichen Diskussion und vielen Medienberichten scheint man davon weniger überzeugt. Es ist ja sogar von einem U-Boot die Rede?
Über die Jahre sind zahlreiche Verschwörungstheorien über einen alternativen Unfallhergang entstanden. Diese blühen nun neu auf. Für meine heute erschienene Einschätzung in der Neuen Zürcher Zeitung habe ich mit dem Leiter der damaligen Untersuchung der TU Hamburg gesprochen und Arbeiten, die dazu und zu vergleichbaren Fällen in der Managementforschung erschienen sind, ausgewertet. Wir wissen heute, dass die "Estonia" nicht durch eine U-Boot-Kollision sank und auch nicht, wie einige Stimmen meinen, infolge von Sprengungen, Explosionen oder Terroraktivitäten. Die Ursachen sind, nach heutigem Stand, viel banaler. Das Bugvisier war erstens nicht auf die erforderliche Belastung ausgelegt, wurde zweitens schlampig gewartet und diese Wartungen wurden drittens selbst kaum kontrolliert. Durch ungeeignete Methoden beim Bedienen des Visiers hat die Materialermüdung immer mehr zugenommen, bis es auf offener See eskalierte. Es gab auch bereits vor dem Untergang der "Estonia" schwere Zwischenfälle mit demselben Bautyp. Das liegt an der speziellen Fähren-Konstruktion und an damaligen Sicherheitsmängeln, die erst später korrigiert wurden. Diese Fähren konnten mit ihrem großen offenen Fahrzeugdeck bei Schäden schnell volllaufen, viel schneller als normale Schiffe, die stärker gegliedert sind, wodurch das Sinken verzögert wird und noch geordnet evakuiert werden kann.
Große Unglücksfälle oder Katastrophen, bei denen es auch um Fehlentscheidungen ging, schockieren die Öffentlichkeit ja seit eh und je. Wie kann man denn aus Sicht der Unfallforschung einen solchen Fall näher rekonstruieren und einordnen?
Der Dreiklang lautet aus meiner Sicht: Material, Physik, Soziales. Die Rekonstruktion eines größeren Unglücks muss vor allem die Zeit und die Entwicklung vor dem Desaster genauer unter die Lupe nehmen. Dafür braucht man, je nach Fall, verschiedene Expertisen. Bei allen technisch bedingten Unglücken sind Ingenieure, Materialforscher und Naturwissenschaftler gefragt. Wenn es um die angesprochenen Fehlentscheidungen im Vorfeld geht, kommen Soziologen und Psychologen ins Spiel. Dazu dann Juristen, die über den regulatorischen Rahmen, der zum Unfallzeitpunkt bestand, etwas sagen können und damit Hinweise geben, weshalb ein bestimmtes Vorgehen üblich gewesen ist, auch wenn es sich später als defizitär herausstellt. Ich selbst bin Organisationsforscher. Das heißt, mich interessieren Unglücksfälle und Störungen im Zusammenhang mit Unternehmen, Projektabläufen und Führungshandeln. Dass mich dabei sehr verschiedene Vorfälle interessieren, liegt daran, dass alle sichtbaren Katastrophen mit menschlicher Beteiligung in der Regel organisatorisch bedingt sind: Schiffe gehören Reedereien, Flugzeuge werden von Airlines betrieben, der ICE von der Deutschen Bahn, Kraftwerke gehören Energiekonzernen usw. Interessant ist die besondere Einbindung eines Geschehens in die Managementstruktur. Und da muss man sich dann genauer anschauen, wie Routinen und Praktiken längere Zeit Bestand hatten und was daher möglicherweise nicht rechtzeitig an Gefahr registriert werden konnte.
Wenn man relativ plausibel nachvollziehen kann, wie bestimmte Unglücksfälle zustande kamen, wie erklärt sich dann, dass es dennoch so ein starkes Bedürfnis nach alternativen Sichtweisen gibt und einer "ganzen Wahrheit"?
Hier kommt eine ganze Reihe sozialer Aspekte zusammen. Zum einen sind besonders hohe Opferzahlen ein Anlass dafür, große Schadensansprüche und Untersuchungskommissionen in Gang zu bringen. Einfach deshalb, da sich ein enormes Interesse bei den Hinterbliebenen und in der Öffentlichkeit aufbaut. Damit verbunden ist die Hoffnung, den Verantwortlichen habhaft zu werden und die Schuldfrage definitiv klären zu können. Gerade technische Verwicklungen erschweren aber die Rekonstruktion der genauen Verantwortung, was dann dazu beitragen mag, alternativen Rückschlüssen und Untersuchungsmethoden anzuhängen, um so vielleicht zu einer vollständigen Aufklärung aller Vorgänge zu kommen. Zudem befassen sich ja nicht alle, die an solchen Fällen interessiert sind, professionell mit Unfallforschung. Primär über TV-Berichte, Dokumentationen und Reportagen geht das Wissen über Katastrophen durch die Welt. Dies kann das Bild von schlimmen Abläufen prägen; und das eben auch in einer vereinfachten Art und Weise. So entstehen manche Stories und Mythen. Und schließlich ist es so, dass jede Verschwörungsidee manchmal einen Funken Wahrheit haben kann, aber anders als spekuliert wird.
Gilt das auch für die aktuell kursierende These, die "Estonia" habe eine unbekannte Fracht transportiert oder die Regierungen von Schweden, Finnland und Estland wollten bestimmte Informationen vertuschen?
Ja, das ist genau bei der "Estonia" ein interessanter Punkt. Die anfänglichen Untersuchungen verliefen aus heutiger Sicht tatsächlich in einer Weise, die manchen Verdacht nährt. Man wollte die Unglücksstelle schnell mit großen Mengen Kies und Beton zuschütten und es sind auch potenzielle Beweismittel bzw. Materialien verloren gegangen. Das erkläre ich mir bisher aber, wie viele Kollegen, nicht unbedingt als eine konzertierte Aktion, um andere Ursachen zu verschweigen, sondern eher damit, dass es bei Unglücksfällen zu unbedachten, leichtfertigen oder oberflächlichen Entscheidungen kommen kann. Etwa weil man mit den Dimensionen eines solchen Falls von Ermittlerseite gar nicht vertraut ist, einfach teils auch nicht die Kompetenz dafür hat, alles schnell und zugleich gründlich zu studieren und aufzuschreiben. Unter Eile und politischem oder medialem Druck kann da schon einmal was durcheinander geraten. Ich bin also vor dem Hintergrund anderer Fälle eher geneigt zu sagen, dass vieles Eigenartige mit organisatorischen Defiziten, Versehen und Versagen zu tun haben kann, statt sofort eine Verschwörung der offiziellen Stellen zu vermuten. Es könnte sein, dass manche Details wirklich nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen, weil sie Pannen offenlegen und nicht, weil ursächlich etwas zu verbergen wäre. Vielleicht hatte die "Estonia" unbekannte, illegale oder irgendwie problematische Fracht an Bord. Das ist weder qualifiziert zu behaupten, noch ist es auszuschließen. Am Ende ist es wichtig, dass man jedenfalls ursächliche und Hauptfaktoren von etwaigem Neben- oder Begleitgeschehen unterscheidet.
Was können Manager/-innen mit solchen Erkenntnissen anfangen, lernt man aus diesen Fällen?
Erstmal ist es wichtig, die hintergründige "Normalität" solcher Fehlerketten zu begreifen. Natürlich will jedes Unternehmen alles daran setzen, keine Risikofaktoren zu übersehen und nach einem Zwischenfall in die Krise zu geraten. Aber die Entwicklung schlechter oder gefährlicher Praktiken ergibt sich oftmals dadurch, dass vor dem Unglück diese Probleme so gar nicht gesehen oder bewertet wurden. Das heißt, was man in Unternehmen eigentlich braucht, ist eine gewisse Sensibilisierung bezüglich solcher Abläufe und Stellen, bei denen eine hohe Abhängigkeit von Sicherheitsbestimmungen und Risiken zu erwarten ist. Dazu wurde in der Forschung sogar ein eigener Ansatz entwickelt, der sich "High Reliability Organization" nennt, etwas umständlich im Deutschen vielleicht so viel wie "Organisation der Hochzuverlässigkeit". Die Idee ist hier, Führungskräfte und Teams systematisch auf kritisches Nachdenken und Beobachten von Lösungen hin zu qualifizieren und dadurch rechtzeitig Nachlässigkeit und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Man spricht von sogenannten "Staff Rides", in denen Fehler ausgewertet oder projiziert werden. Das hat gewiss einen Nutzen. Aber man wird damit nicht alle Unfälle vermeiden können. Jede technische Innovation beispielsweise wird erst im Laufe ihrer Anwendung richtig begriffen. Etwas theoretisch als Problem vor Augen zu haben, bedeutet noch nicht, es praktisch zu beherrschen. Hohe wirtschaftliche Erwartungen, Zeitdruck und knappe Personaldecken können ihr Übriges tun. Ich denke aber durchaus, dass man die Vorsorge gerade in technischen Bereichen sehr professionell einrichten kann, um die bekannten Risiken einzudämmen. Es hängt immer davon ab, was man schon weiß und versteht und welche Schlüsse man daraus ziehen kann.
An welchem Fall forschen Sie denn derzeit in der NBS?
Wir beschäftigen uns in einem Kooperationsprojekt zwischen der Universität Oldenburg und der NBS mit den Entscheidungsabläufen vor dem großen ICE-Zugunglück von Eschede im Jahr 1998. Hierzu wird viel Material ausgewertet und es wurden Interviews mit den beteiligten Staatsanwälten, Ermittlern und Gutachtern geführt. Die ICE-Katastrophe ist ein klassisches Beispiel für einen Fall von sehr hoher technischer Komplexität, bei dem es anfänglich so aussah, dass man eine nützliche Innovation konstruiert habe und sich später aber zeigte, welche fatalen Folgen aus dieser Lösung hervorgingen. Wohlgemerkt erst nach rund sieben Jahren. Uns interessieren also zeitliche, organisatorische und technische Aspekte, die für den Unfall am Ende eine große Rolle spielen. Dazu arbeiten wir an einer neueren These.
Vielen Dank für das Gespräch.
Literaturtipps für Interessierte und Praktiker:
Hagen, J. U. (2013): Fatale Fehler. Oder warum Organisationen ein Fehlermanagement brauchen. 2. Aufl. Wiesbaden.
Perrow, C. (1992): Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. 2. Aufl. Frankfurt/New Vork.
Sutcliffe, K. M./Weick, K. E. (2010): Das Unerwartete managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. 2. Aufl. Stuttgart.
Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg mit dem Schwerpunkt Organisationsforschung. Er lehrt auch an den Universitäten Oldenburg und Bielefeld. Weitere Informationen zu seiner Tätigkeit finden Sie auf seiner Website.
Die NBS Northern Business School – University of Applied Sciences ist eine staatlich anerkannte Hochschule, die Vollzeit-Studiengänge sowie berufs- und ausbildungs-begleitende Studiengänge in Hamburg anbietet. Zum derzeitigen Studienangebot gehören die Studiengänge Betriebswirtschaft (B.A.), Sicherheitsmanagement (B.A.), Soziale Arbeit (B.A.), Business Management (M.A.) und Real Estate Management (M.Sc.).
Ihr Ansprechpartner für die Pressearbeit an der NBS Hochschule ist Frau Kathrin Markus (markus[at]nbs.de). Sie finden den Pressedienst der NBS mit allen Fachthemen, die unsere Wissenschaftler abdecken, unter www.nbs.de/die-nbs/presse/expertendienst.